Zum Tod von Frauenforscherin Elisabeth Gössmann 1928-2019: Ein Nachruf von Helen Schüngel-Straumann | Basel/Schweiz

Folgender Beitrag (Text & Bild) wurde dem ÖFFTh mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt:
„Nachruf für Elisabeth Gössmann
Elisabeth Gössmann, geb. am 21.6.1928 in Osnabrück, ist eine der ersten katholischen Theologinnen Deutschlands und eine der ältesten Pionierinnen der Feministischen Theologie. Ihre Kindheit und Jugend war sehr beeinträchtigt durch die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg mit seinen Folgen. Das aufgeweckte Kind, das stark auf Sinnsuche war, hat schon früh den Wunsch nach einem Theologiestudium geäußert. Nach ihren Motiven befragt, antwortete sie – wie auch später noch – mit dem Wahlspruch: sub specie aeternitatis.
Trotz vieler Probleme konnte sie sich diesen Wunsch erfüllen.
Zuerst studierte sie katholische Theologie an der Universität Münster, danach in München und gehörte zu den ersten drei Frauen, die 1954 in München promovierten. Ihre Arbeit bei Michael Schmaus mit summa cum laude ging über „Die Verkündigung an Maria im dogmatischen Verständnis des Mittelalters“. Schon als Kind hatten sie die Bilder und Marienstatuen im Osnabrücker Dom sehr beeindruckt.
Jahrelang arbeitete Elisabeth Gössmann dann zusammen mit Joseph Ratzinger am Grabmann-Institut der Universität München. Sie waren somit Kollegen, und Elisabeths wissenschaftliche Begabung war derjenigen Ratzingers sicher nicht unterlegen. Trotzdem: Welch eine unterschiedliche Laufbahn war den beiden beschieden! Für Elisabeth Gössmann galt eben der „Geburtsfehler: weiblich“, so hat sie ihre Biographie benannt, die 2003 in München erschienen ist. Ihre Habilitation konnte sie, obwohl sie ein theologisches Thema aus dem Mittelalter behandelte (Summa theologica Halensis), nicht an der Theologischen Fakultät einreichen, sondern sie musste auf die Philosophische Fakultät in München ausweichen. Denn die Habilitation von Frauen (Laien) war in der katholischen Theologie noch nicht erlaubt.
Von 1972 an bewarb sich Elisabeth Gössmann 37 Mal für eine Dozenten- bzw. Professorenstelle in Deutschland. Sie wurde regelmäßig abgelehnt, zuletzt sogar mit dem Argument, sie sei „überqualifiziert“. Diese Ablehnung in ihrer Heimat hat sie immer wieder erwähnt, darunter litt sie lebenslang.
Seit 1954 hatte sie Kontakt zu Jesuiten an der Sophia Universität in Japan. Zunächst ging sie nur für kürzere Etappen dorthin, später wurde sie wegen der fehlenden Akzeptanz in Deutschland über dreißig Jahre in Japan tätig, allerdings unter Aufgabe der Muttersprache und auf einem theologisch stark reduzierten Feld. Zuerst lehrte sie an der Sophia-Universität Tokyo deutsche Literatur des Mittelalters auf Englisch, später an der Seishin-Frauen-Universität als Professorin für „Christian Philosophy“ in japanischer Sprache. Während ihre zwei Töchter überwiegend in Japan aufgewachsen sind und beide Sprachen perfekt beherrschten, fand Elisabeth Gössmann in dieser langen Zeitspanne nie die Zeit, um japanisch schreiben zu lernen, sprechen konnte sie es jedoch fließend.
Seit 1955 flog Elisabeth Gössmann regelmäßig zwischen Deutschland und Japan hin und her: den Sommer verbrachte sie meist in ihrer Wohnung in München, hielt im ganzen deutschen Sprachgebiet Vorträge und Tagungen, zu Semesterbeginn kehrte sie nach Japan zurück. Sie verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze über mittelalterliche Themen, aber auch über moderne Frauenfragen. 1980 lernte ich sie auf einer Tagung über mittelalterliche Mystik kennen, und es ergab sich eine jahrzehntelange Zusammenarbeit, da ich mich stark für das Mittelalter interessierte, und im Gegenzug konsultierte mich Elisabeth Gössmann häufig bei biblischen Problemen. Ein gemeinsames Thema waren besonders die ersten Kapitel der Bibel (Gen 1-3), wodurch sich für uns eine fruchtbare Zusammenarbeit entwickelte.

Das aufwändigste Vorhaben war für sie seit 1982 die „querelle des femmes“ eine für zehn Bände geplante Reihe mit dem Namen „Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung“. Der erste Band, „Das wohlgelahrte Frauenzimmer“, ist 1984 erschienen. Der zweite Band war ausdrücklich „Eva“ gewidmet, „Eva – Gottes Meisterwerk“erschien 1985. Insgesamt konnten neun Bände erscheinen, wobei der Sonderband 9 (1995) über Hildegard von Bingen, sicher ihre Lieblingsgestalt im Mittelalter, herausragt. Den Durchbruch für ihre Arbeit für Frauen schilderte Elisabeth Gössmann nicht nur mit ihren vielen demütigenden Erfahrungen, sondern, wie sie selbst sagte, mit einem Schock, den sie schon 1947 in München erlebte, als sie unter „Patres Latini“ einen Band fand „Hildegardis Abatissa“. Ein anderes wichtiges Thema war für sie die „Päpstin Johanna“, über die sie viele Vorträge hielt und auch einen ausführlichen Band verfasste.
1986 wurde Elisabeth Gössmann in zwei wichtigen Bereichen maßgebend tätig.
Zuerst wurde mit Hilfe des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf ein ökumenisches Netzwerk von und für Frauen, die theologisch forschen, gegründet. Zur Gründungsveranstaltung flog Elisabeth Gössmann eigens aus Japan nach Zürich und hielt einen wissenschaftlichen Vortrag zum Thema der Gottebenbildlichkeit der Frau in der Theologie von Hildegard von Bingen. Nicht die Feministische Theologie, sondern dieses mittelalterliche weibliche Genie hat schon darüber gelehrt, dass die Gottebenbildlichkeit von Frau und Mann auf der gleichen Stufe steht – gegen eine Jahrhunderte lange Missachtung der Aussagen von Gen 1! Die damals gegründete ESWTR (European Society of Women in Theological Research) ist bis heute ein wichtiges Forum und Netzwerk für theologische Frauenforschung. Zuletzt war Elisabeth Gössmann 2006 an der Feier zum 20jährigen Bestehen der ESWTR in Graz dabei. Wenige Zeit später erkrankte sie schwer.
Das zweite Vorhaben, die Verfassung eines „Wörterbuches der Feministischen Theologie“, begann ebenfalls 1986. Die Idee kam u.a. von Elisabeth Moltmann-Wendel, Tübingen. Gemeinsam erarbeiteten drei evangelische und drei katholische Theologinnen rund vier Jahre lang ein Konzept, bis 1991 das erste Feministisch-theologische Wörterbuch weltweit beim Gütersloher Verlag erscheinen konnte. Elisabeth Gössmann, Herlinde Pissarek-Hudelist und Helen Schüngel-Straumann waren die katholischen Mitherausgeberinnen dieses aufwendigen Werkes. Denn es gab noch keine Vorbilder, und die zu bearbeitenden Stichwörter mussten erst in vielen Arbeits-Diskussionen gefunden werden. Auch an der stark überarbeiteten 2. Auflage 2002 war Elisabeth Gössmann maßgeblich beteiligt. Hier ist noch anzufügen, dass sie die große Mühe auf sich genommen hat, eine Übersetzung des WFTh ins Japanische penibel zu überwachen und zu korrigieren. Da es für viele Begriffe und Aussagen im Japanischen gar kein Äquivalent gab, ist dies ein weiteres Zeugnis von ihrem fast übermenschlichen Fleiß und ihrer Ausdauer.
1991 war ich einige Wochen in Japan, da ich eine Festschrift für Elisabeth Gössmann zu ihrem 65. Geburtstag herauszugeben gedachte. Ich wollte nämlich auch KollegInnen aus Japan in diesem Band berücksichtigen. Der Festschrift gab ich den Titel „Zwischen Zeiten und Kontinenten“, weil mir diese Formulierung am passendsten für den langen und schwierigen Weg Elisabeths erschien. Das Buch erschien 1993 beim Verlag Herder. Als Mitherausgeber konnte ich Theodor Schneider gewinnen. In dem Band befinden sich neun Beiträge aus Japan, viele auf Englisch, dazu ein ausführlicher Lebenslauf von Elisabeth Gössmann und eine Bibliographie von 1957-1992, davon zwei Seiten für japanische Beiträge.
An der Feier in der Katholischen Akademie in München hielt Herlinde Pissarek-Hudelist den Festvortrag. Sie war die erste katholische Theologieprofessorin Österreichs und Dekanin der Jesuitenfakultät in Innsbruck. Sie hatte ihren Vortrag mit dem Satz geschlossen: „Ich wünsche Dir anlässlich der Vollendung Deines 65. Lebensjahres, dass bei den Deutschen Bischöfen und auch Universitäten ein gewisses Wachstum im Geiste einsetzen möge.“ Dieser Wunsch ist immer noch aktuell! Nie mehr kam das Dreigestirn „Deutschland, Österreich, Schweiz“ so zusammen, denn Herlinde starb kurze Zeit danach mit nur 62 Jahren.
Im WS 1991/92 gelang es mir, für Elisabeth Gössmann eine Gastprofessur zu organisieren. Sie kam dafür regelmäßig nach Kassel und war eine große Bereicherung für den kleinen Fachbereich mit Vorlesungen über asiatische und christliche Religionen in Japan und mehreren feministischen Kolloquien, an denen sich u.a. auch Historikerinnen beteiligten. Ein Ausspruch Elisabeths ist mir immer noch in Erinnerung: „Zum ersten Mal kriege ich in Deutschland richtiges Geld!“
In den Jahren, nachdem Elisabeth Gössmann die Altersgrenze für eine Berufung in Deutschland überschritten hatte, erhielt sie mehrere Ehrendoktorate, so in Graz 1985, in Frankfurt 1994, in Bamberg und in Luzern. Dort erhielt sie 1997 auch als erste Frau den Herbert Haag-Preis für Freiheit in der Kirche (zusammen mit Elisabeth Moltmann-Wendel). Zuletzt verlieh ihr 2017 auch noch ihre Heimatstadt Osnabrück einen Dr.hc. Sie fühlte sich durch die späten Ehrungen zwar etwas getröstet, aber eine gewisse Bitterkeit über die jahrzehntelange Zurücksetzung war trotzdem nicht zu übersehen.
Die theologische Forschung verdankt Elisabeth Gössmann sehr viel. Sie hat mit ihrer theologiegeschichtlichen Frauenforschung ein immenses und reiches Erbe hinterlassen, das in seiner Bedeutung für die theologische Forschung insgesamt nicht überschätzt werden kann.
Basel, 10. Mai 2019 Prof. Dr. Helen Schüngel-Straumann
PS.: Zahlreiche Bücher aus dem Nachlass von Elisabeth Gössmann befinden sich in Basel im Zentrum Gender Studies der Universität Basel.
Persönliche Akten sind – wie die Akten der ESWTR – in der Handschriftenabteilung der UB Basel einzusehen.“